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Werte-Worte-Taten …

Agilität – gelebte (!) Wertschätzung

Eine echte Herausforderung für so manche Führungskraft

Seit einiger Zeit spukt der Begriff „Agilität“ lebhaft durch alle Führungsetagen. Denn Agilität gilt als Meta-Erfolgsfaktor für die digitale Transformation und für moderne Unternehmen sowieso.

Dabei stellt sich für mich zunächst einmal die Frage, was ist eigentlich Agilität?
Der Begriff entstand ursprünglich im Bereich der Softwareentwicklung in Methoden wie zum Beispiel Scrum. Die Idee agiler Softwareentwicklung war es, diese Prozesse flexibler und schlanker zu gestalten und damit dem Hinterherhinken an sich verändernde Rahmenbedingungen entgegenzuwirken. Damit ist weniger der Aspekt der Schnelligkeit gemeint, sondern die Fähigkeit, sich auf rasch verändernde Rahmenbedingungen anpassen zu können. Und das Ganze setzt auf hohe Selbststeuerung der Teams. Damit wird diesen Teams Verantwortung für den eigenen Prozess übertragen.

Wer sich in Richtung agiler Unternehmensstrukturen verändern will, muss den eigenen Führungsstil verändern. Sagen, wo’s langgeht, reicht dann nicht mehr. Gefragt – und das zwingend –  sind viel mehr: Delegation von Entscheidungskompetenz, Beteiligung an Entscheidungsprozessen und höhere Autonomie für Teams und Mitarbeiter.

Erhalten Mitarbeiter mehr Entscheidungskompetenz und werden sie ernsthaft eingebunden in Entscheidungsprozesse, ist das gelebte (!) Wertschätzung ihrer Kompetenz. Damit steigt nicht nur die Freude an der Arbeit, sondern auch die Eigeninitiative.

Agilität- Riskant und dumm?

Führungskräften in agilen Unternehmen wird dabei immer wieder die gleiche Frage gestellt: Ist es nicht riskant und dumm, ihren Mitarbeitern den Freiraum für Entscheidungen zu geben, ohne dass sie von oben kontrolliert werden? Insbesondere dann, wenn es um’s Geld geht? Interessant dabei ist, dass die Wahl zwischen Vertrauen und Kontrolle selten auf rationaler Ebene diskutiert wird. Es ist eine Wahl, die oft auf Basis tiefsitzender, oft unbewusster Grundüberzeugungen diskutiert wird.

Diesen Kontext habe ich vor einiger Zeit intensiv mit einem Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens diskutiert. Anlass unserer Gespräche war, dass er „seine Führungsmannschaft für die modernen Methoden fit machen möchte“: Zukunftsorientierte Unternehmenskultur, werteorientierte Führungskonzepte, Scrum im Projektmanagement, New-Work-Arbeitsplätze… Seine Vision:  dass „wir uns vor allem über die Menschen differenzieren und da müssen wir was tun“.

Ganz schnell wurde bei der Auftragsklärung deutlich, dass es nicht darum gehen kann, wie man bessere Regeln formuliert, sondern wie man Teams unterstützen kann, damit sie selbst die beste Lösung finden.

Wie kann man die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Teammitglieder stärken, so dass sie möglichst wenig richtunggebende Anweisungen von oben brauchen?

Und dass sie Selbstverantwortung für die Prozesse übernehmen?

In einer klassischen Organisationsstruktur sind Besprechungen auf jeder Ebene nötig, um Informationen zu sammeln, zu formulieren, zu filtern und zu übermitteln, so dass sie in der Befehlskette auf und ab weitergeleitet werden können. In einer agilen Struktur fällt die Notwendigkeit für solche Besprechungen fast vollständig weg. Die Überforderung durch Besprechungen ist in herkömmlichen Strukturen besonders akut, wenn man sich die oberen Hierarchieebenen anschaut. Der typische Tag einer Führungskraft besteht aus einem Meeting nach dem anderen. Es gibt viele Witze darüber, dass Mitarbeiter auf den unteren Ebenen der Hierarchie die Arbeit erledigen, während Führungskräfte in den oberen Hierarchieebenen ihre Zeit in Meetings verbringen.

Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, dann wird klar, dass es eigentlich auch nicht anders sein kann. Je höher man kommt, desto mehr Linien überschneiden sich. Nur auf der oberen Führungsetage können sich die verschiedenen Bereiche für Verkauf, Marketing, Forschung und Entwicklung, Produktion, Personalentwicklung und Finanzen treffen. Die Entscheidungen werden natürlicherweise nach oben gedrückt, weil es der einzige Ort ist, wo Entscheidungen getroffen und Kompromisse gefunden werden können. Es ist schon fast vorherbestimmt: Durch eine klassische Organisationsstruktur beklagen sich die Mitarbeiter an der Spitze der Organisation über die Überforderung durch zu viele Meetings, während die Mitarbeiter auf den unteren Ebenen sich machtlos fühlen.

In agilen Strukturen überschneiden sich die Linien auf der untersten Ebene, innerhalb der Teams. Die Teams haben kurze Besprechungen (täglich, wöchentlich oder monatlich), um sich neu auszurichten und Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus gibt es oft keine regelmäßigen geplanten Treffen. Die Treffen werden spontan geplant, wenn eine Situation besondere Aufmerksamkeit erfordert, wobei die relevanten Mitarbeiter am Tisch sitzen. Es ist eine organische Form der Unternehmensführung, wobei die Struktur den neu entstehenden Bedürfnissen folgt, und nicht anders herum. Für die meisten von uns eine regelrechte Revolution.

Vertrauen versus Kontrolle

Weil es kein mittleres Management und nur wenige Unterstützungsfunktionen gibt, verzichten evolutionäre Unternehmen auf die gewohnten Kontrollmechanismen und arbeiten stattdessen aus einem geteilten Vertrauen. Im Zentrum dieser Haltung steht die Annahme, dass die Mitarbeiter in hohem Maße mitdenkende Menschen sind, denen man das Vertrauen entgegenbringen kann, dass sie das Richtige tun. Unter dieser Voraussetzung braucht man kaum Regeln und Kontrollmechanismen.

Wenn man Vertrauen gibt, dann erwächst beim Gegenüber Verantwortung. Nachahmung und Gruppendruck regulieren das System besser als es eine Hierarchie jemals könnte. Dies ist aus selbstorganisierenden Systemen längst bekannt. Die Teams formulieren ihre eigenen Zielvorgaben und sie sind stolz, wenn sie die Ziele erreichen. Wenn jemand das System ausnutzen will, indem er nicht seine Leistung bringt oder zu wenig arbeitet, dann werden ihm seine Teammitglieder bald sagen, was sie davon halten. Man braucht kein klassisches Management und keine Kontrollsysteme, um sie „auf der Spur zu halten“.

Die Energie des Vertrauens

Wenn Menschen in kleinen Teams vertrauensvoller Kollegen arbeiten und die Ressourcen sowie die Macht haben, um die Entscheidungen zu treffen, die sie als notwendig erachten, dann können außergewöhnliche Dinge geschehen.

Ein beeindruckendes Beispiel ist für mich der Weg der Upstalboom Gruppe. Die Upstalsboom Hotel + Freizeit GmbH & Co. KG ist einer der führenden Ferienanbieter an der Nord- und Ostsee. Als Betreiber von rund 70 Hotels und Ferienwohnanlagen bietet die mittelständische Unternehmensgruppe höchste Qualitätsstandards im Drei- bis Fünf-Sterne-Segment an 18 Standorten. Die Unternehmensgruppe mit rund 650 Mitarbeitern hat sich seit der Gründung 1976 sehr dynamisch entwickelt. Mit einer werteorientierten Unternehmensphilosophie steht der Mensch dabei im Mittelpunkt.

Eine im Jahr 2010 durchgeführte Mitarbeiterbefragung war Ausgangspunkt für einen Kulturwandel bei Upstalsboom, der alles veränderte. „Wir brauchen einen anderen Chef als Bodo Janssen“, war nur eine von vielen kritischen Stimmen aus der Mitarbeiterschaft, die den Inhaber Bodo Janssen sehr betroffen gemacht haben; die Mitarbeiter fühlten sich schlecht geführt. Die Erkenntnis, dass der „Fisch am Kopf an zu stinken“, war sehr ernüchternd und zugleich schmerzhaft.

In diesem Spannungsfeld haben er und seine Mitarbeiter begonnen, einen neuen Weg zu gehen – den Upstalsboom Weg. Mittlerweile ist der „Der Upstalsboom Weg“ zu einem Synonym für eine besondere Unternehmenskultur geworden, die auf Werten basiert. Hierbei spielt das Thema „Freiheit“ eine zentrale Rolle. Grundgedanke ist, dass jeder bei seiner Arbeit die Freiheit hat, sich persönlich weiterzuentwickeln und sich für das einzusetzen, was ihm wichtig ist. Frei nach Perikles „Das Geheimnis von Glück ist Freiheit. Und das Geheimnis von Freiheit ist Mut“.

Dieser mutige Weg bietet jedem Einzelnen die Möglichkeit, sich persönlich weiterzuentwickeln. Er hat zu einer Entwicklung hin zu selbstorganisierten Teams und zur teilweisen Abschaffung von Positionen im Unternehmen geführt. In der täglichen Zusammenarbeit orientieren sich alle an Leitsätzen wie „Wertschöpfung durch Wertschätzung“, „Führung ist Dienstleistung, kein Privileg“ oder „Potenzialentfaltung statt Ressourcenausnutzung“.

Die positiven Auswirkungen des Upstalsboom Weges lassen sich auch in Zahlen ausdrücken:

  • Steigerung der Zufriedenheit der über 600 Mitarbeitern auf 80%,
  • Senkung der durchschnittlichen Krankheitsquote von 8% auf 3%,
  • Steigerung der Weiterempfehlungsrate unser über 300.000 Gäste auf 98%,
  • Verdopplung der Unternehmensumsätze innerhalb von drei Jahren, bei überproportionaler Steigerung der Produktivität (von 2013 auf 2014 40% mehr Ertrag)

Dieses Fallbeispiel erscheint außergewöhnlich. Es zeugt von einem Geist, der jeden Tag in selbstführenden Organisationen gelebt wird. Letztendlich geht es um einen entscheidenden Punkt: Angst ist die stärkste Beschränkung. Wenn Unternehmen nicht auf impliziten Mechanismen der Angst aufbauen, sondern auf Strukturen und Praktiken, die Vertrauen und Verantwortung hervorbringen, dann geschehen außergewöhnliche Dinge.

Wie ging es weiter mit dem mittelständischen Unternehmen zu Beginn des Artikels? Mein Gesprächspartner und ich haben uns nach (etlichen) Gesprächen darauf verständigt, dass der angestrebte Veränderungsprozess eher kleine Schritte beinhalten soll, dafür aber zeitnah intensive Reflexionsschleifen für den Gesamtprozess. Wir haben dafür zunächst ein überschaubares Pilotprojekt aufgesetzt: Es beinhaltet Idee, Haltung, strukturierter Prozess und Toolbox gleichermaßen. Notwendig ist dabei einerseits die Struktur des Prozesses, welche Sicherheit, Konsequenz und Wirkung schafft. Dazu braucht es aber auch die Flexibilität, die es ermöglicht, die Arbeit an der Unternehmenskultur so zu gestalten, dass sie maßgeschneidert auf die Gegebenheiten im Unternehmen aufsetzt.

Es wurde in diesem Auftragsklärungsprozess mehr als deutlich: Es geht um die Arbeit an der Unternehmens- und Führungskultur als tragfähiges Fundament für agile Strukturen und Vorgehensweisen.

Und das rüttelt und schüttelt an den bisherigen Fundamenten und Grundüberzeugungen!

Eine gewaltige Aufgabe für Führungskräfte und alle Beteiligten. Da braucht es ab und zu auch den Sprung ins kalte Wasser, wie mein Gesprächspartner aus dem Mittelstand mutig bewiesen hat! Und sicherlich lohnt sich auch für so manche Führungskraft aus Konzernen, bei solchen Prozessen zu spicken und Bewegung in die starren Konzernstrukturen zu bringen.