Mit dem Herzen durch das Leben tanzen…
die Schwierigkeit der richtigen Entscheidung
„Kann ich meinem Herzen folgen? Das ist mein Wunsch. Dem Herzen zu folgen, daran denke ich zurzeit jeden Tag…“, fragte mich neulich ein guter Freund. Er war verzweifelt, weil er nicht so recht wusste, welcher inneren Stimme er in einer für ihn sehr schwierigen Situation folgen sollte. Was ist „richtig“? Was ist „falsch“? Wie soll er sich entscheiden? Wie soll sein Leben weiter gehen? Spontan schrieb ich zurück: „Dem Herzen folgen… ich glaube, es ist der einzige Weg, wenn man seinem inneren Wesen wirklich gerecht werden will. Manchmal ist es „innen“ klar und „außen“ wird es dann schwierig. Ich kann es dir nur aus eigener, subjektiver Erfahrung sagen, das Leben kommt einem zu Hilfe, wenn man authentisch seinen Weg geht“.
Die Schwierigkeit der richtigen Entscheidung
Dieser kurze Chat beschäftigt mich seit Wochen. Immer wieder kommt mir dieser kurze Austausch in den Sinn. Im Prinzip ist es ganz einfach. Und doch so schwer, jedenfalls bei den wesentlichen Entscheidungen im Leben. Mir hilft, mich in solchen Situationen an ein Zitat von Aristotles zu erinnern: „Gut ist es für den Menschen, sich so sehr wie möglich zu verwirklichen und zur Vollendung zu bringen, was er vom Wesen her ist“. Selbstverwirklichung meint dabei nicht, sich um jeden Preis selbst zu verwirklichen. Und schon gar nicht „per Checkliste oder mittels 10-Punkte-Ratgeber-Tipps“ – auch wenn sie gut gemeint sind.
Die Analytische Psychologie Carl Gustav Jungs bietet mit dem Konzept der Individuation einen fundierten und modernen Ansatz, sich mit dem auseinanderzusetzen, was die Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit auf dem individuellen Lebensweg ausmacht. Seinen ganz speziellen Weg für sich selbst zu finden. Der Individuationsprozess ist in diesem Sinne ein Differenzierungsprozess: Die Besonderheit eines Menschen soll zum Ausdruck kommen, seine Einzigartigkeit. Das Annehmen von sich selbst, samt den Möglichkeiten und den Schwierigkeiten, ist eine zentrale Grundtugend, die im Individuationsprozess verwirklicht werden will. Hierbei spielt das Erkennen der eigenen Schattenseiten eine große Rolle. Und das ist, weiß Gott, nicht immer angenehm. Individuation ist die bewusste Gestaltung des Lebens. Es geht um das Erkennen der inneren Impulse und das Gestalten des Erkannten. Dies mit dem Ziel, zu mehr Übereinstimmung mit sich selbst zu kommen.
„Werde, der du bist“
(Pindar, ein griechischer Dichter, lebte ca. 522 bis ca. 445 v. Chr.)
Das Werden zu dem, der man ist, bedeutet nicht, ein idealer Mensch zu werden, der keine Probleme mehr hat. Sondern ein Mensch zu sein, der die Eigenarten und Unzulänglichkeiten seiner Persönlichkeit bewusst wahrnimmt. Auch, wenn so ein Mensch für andere nicht immer bequem ist. Im Gegenteil: Oft wird es in der Außenwelt dann erst richtig spannend.
Es bedeutet häufig auch Abgrenzung und Loslösung von inneren Gebundenheiten, um zu mehr Selbstbestimmung zu gelangen und innere Freiheit zu gewinnen. Dazu braucht in der Regel eine ordentliche Portion Mut, sich im täglichen Trott damit auseinanderzusetzen. Es ist meist viel einfacher, es sich auf dem Sofa bequem zu machen und die äußeren Umstände für alle misslichen Zustände zuständig zu erklären.
Dieter Schnocks schreibt in seinem Buch „Mit C.G. Jung sich selbst verstehen“ (2013, S. 21)
dazu sehr treffend: „Die Erfüllung der Aufforderung, zu dem zu werden, der man ist, bedeutet aus tiefenpsychologischer Sicht, möglichst viel von dem, was an Unbewusstem in mir wirksam und lebendig ist, dem Bewusstsein anzuschließen. Daraus gilt es dann Schlüsse für mein Leben zu ziehen.
- Was kann ich für meine Individuation tun?
- Welchen Beitrag muss ich bewusst leisten, welche Aufgaben erfüllen, um meine Individuation zu fördern?“
Das bedeutet einen intensiven Dialog mit der eigenen Innenwelt. Denn im Inneren der Seele zeigen sich immer wieder Potentiale, persönlicher Reichtum und ganz eigene Besonderheiten von Lebensmöglichkeiten. Aber auch von außen kommen mit dem gelebten Leben viele Anregungen, die als passende Impulse für die eigene Entwicklung verstanden werden wollen. Wenn meine Aufmerksamkeit von Erlebnissen angezogen wird, kann ich die innere Resonanz ernst nehmen. Ich kann erkennen, was die erlebte Thematik von mir will. Oder ganz pragmatisch formuliert: „Was will/soll es mir sagen?“
Natürlich muss ich auch auseinanderhalten können, was sind Verquickungen mit den anderen Menschen, aus denen ich Informationen über die eigenen psychischen Anteile, die in die Beziehungen hineinspielen, bekomme. „Per Projektion gehen immer wieder psychische Inhalte von meinem Inneren hin zu anderen Menschen. Mein mir Fremdes erfahre ich so bei Anderen. Das Erkennen dieser Projektionsprozesse bringt viel Zuwachs an Wissen über mein noch nicht gelebtes Leben“ (Schnocks 2013, S. 27).
Auf dem Weg zu sich selbst
Gerade in Umbruchsituationen wird unsere Identität häufig einer Zerreißprobe unterworfen: Das Alte gilt nicht mehr, das Neue fasziniert zwar, ist aber noch nicht fassbar, und darüber hinaus wissen wir nicht, ob das Neue nur neu oder auch lebenswert ist. Das ist typisch für Übergangssituationen, und dieses Erleben löst eine diffuse Angst aus. Dieser Angst muss man sich stellen, das Risiko muss man auf sich nehmen. Verdrängen wir die Angst, jammern wir immer nur dem Vergangenen nach und verpassen dabei die Zukunft. Wir sind dann unlebendig, wir können die anstehenden Probleme nicht lösen, die sich aufdrängenden Entwicklungen nicht aufnehmen (Verena Kast: Auf dem Weg zu sich selbst. Werden, wer ich wirklich sein kann, 2017, S. 47).
Auch wenn es schwierig und schmerzhaft ist, ist es erfahrungsgemäß sehr hilfreich, sich nicht auf alte bewährte Muster und Sicherheiten zurückzuziehen, sondern sich mutig den Fragen, die das Leben gerade an einen stellt, zu stellen. Und nicht zu kneifen 🙂 Es ist verständlich, Angst vor der nächsten Entscheidung zu haben, die bringt uns aber nicht weiter. Es geht darum, auch mal mutig ins Wasser zu springen, auch wenn wir nicht genau wissen, wie sich das anfühlt, und nicht nur „Fußspitze ins Wasser halten“ und vom großen weiten Meer zu träumen…
Vor dem nächsten Sprung ins Wasser waren mir folgende Fragen immer wieder hilfreich, um meine persönlichen Entscheidungen zu treffen und meinem Herzen zu folgen:
- Wer bin ich?
- Was treibt mich an?
- Nehme ich meine inneren Gegensätze an?
- Wie lebe ich meine Extraversion, wie meine Introversion?
- Wie gestaltet sich mein Weg zum Lebenssinn?
- Gelingt es mir, meinen Erkenntnissen zu vertrauen?