Das Tulpengleichnis

Wozu ist Veränderung gut?

Eine schöne Metapher dafür, warum sich persönliche Weiterentwicklung immer lohnt, finden Sie hier:

Das Tulpengleichnis

Eine schöne Metapher dafür, warum sich persönliche Weiterentwicklung immer lohnt, finden Sie hier

Der alte Gärtner und die Tulpe

(von Ulrich Peters)

In einem alten Lagerschuppen nahe einem Garten lebte einmal eine zufriedene und bequeme Tulpenzwiebel. Vielleicht wäre sie dort alt geworden, wenn sie der Gärtner nicht eines Tages ergriffen hätte, um sie einzupflanzen.

„Es ist an der Zeit“, sagte er zu ihr. „Heute ist die Stunde für dich gekommen, das Leben kennenzulernen.“

„Deine rätselhaften Worte machen mir Angst“, entgegnete die Tulpenzwiebel mit zitternder Stimme. „Das Leben zu lernen scheint mir nicht so verheißungsvoll zu sein, wie du sagst. Es ist so ungewiss, was aus mir werden wird. Stimmt es denn, dass man in die tiefe dunkle Erde muss und ganz schmutzig wird? In dem Lagerschuppen, in dem ich bisher lebte, war alles sauber. Ich war bei meinen Freunden und fühlte mich geborgen.“

„Du wirst dein Leben in dieser sauberen, wohl behüteten Umgebung nicht finden. Du wirst dich auf die Suche machen müssen, sonst vertrocknest du zu einer alten, dürren Zwiebel. Das Leben würde nie in dir aufbrechen, wenn du so bleibst, wie du jetzt bist. Du wirst es nur finden, wenn du bereit bist zu wachsen.“

„Aber wenn du mich eingräbst, dann sterbe ich“, wehrte sich die Tulpenzwiebel immer noch. „Was heißt schon sterben“, entgegnete der Alte. „Du siehst es nur von einer Seite. Aus dem Dunkel der Erde wächst ein neues Leben. Du stirbst nicht, du wirst verwandelt. Je mehr du deine alte Gestalt aufgibst, desto mehr kann eine neue geboren werden, die dir selbst und den Menschen gefallen wird. Werde die, die du wirklich bist!“

„Das klingt fremd für mich, Gärtner: Werde die, die du wirklich bist? Ich bin doch schon jemand, eine Tulpenzwiebel.“

„In dir steckt noch viel mehr, als du jetzt zu sehen vermagst. Du darfst nicht glauben, dass das, was du noch nicht erkennen kannst, deshalb nicht vorhanden sei. Alles Sichtbare wächst aus dem Verborgenen. Du bist ein Same voll blühender Zukunft, voll unendlicher Lebensmöglichkeiten, die tief verborgen in dir schlafen und nur darauf warten, geweckt zu werden.“

„Aber ist das Licht der Sonne denn nicht genug, um meine Lebenskraft zu wecken? Warum muss ich das Dunkel und die Schwere der Erde ertragen?“

„So einfach, wie du denkst, ist es mit dem Leben nicht“, erklärte der Gärtner. „Manches, was dir heute weh tut und als Unglück erscheint, kann morgen dein Glück bedeuten. Nicht nur das Licht der Sonne fördert unsere Fähigkeiten und unsere Lebensenergie, sondern auch das Dunkel und die Erde helfen uns zum Wachsen und Reifen, wie nur sie es vermögen.“

Nachdem er das gesagt hatte, grub der alte Gärtner ein Loch und pflanzte die Tulpenzwiebel ein. Kurze Zeit sah sie noch einen Lichtpunkt über sich, dann aber umgab sie undurchdringliche Finsternis.

Die lange, beschwerliche Zeit des Wachsens begann.

„Jetzt ist es bald zu Ende mit mir“, jammerte die kleine Tulpenzwiebel. „Es hätte so schön sein können, aber nun vergeht mein Leben in der Erde!“ Und sie schien sogar Recht zu haben. Denn ihre Gestalt veränderte sich mehr und mehr. Sie war nicht länger eine glatte, wohlgeformte Zwiebel, sondern begann runzlig und schrumpelig zu werden. Aber sie bemerkte auch, wie sich tief in ihr etwas regte und bewegte, von dem sie nicht sagen konnte, was es war. Dieses Gefühl in ihrem Innern versetzte sie für viele Wochen in unbekannte Unruhe. Nach langen, traurig-düsteren Tagen durchfuhr sie ein heftiger Schmerz, als ob eine Lanze sie aus ihrer Mitte heraus durchbohre. Diese Wunde eröffnete ihr einen neuen Lebensraum. Der Panzer ihres bisherigen Lebens war durchbrochen. An die Stelle abgrundtiefer Finsternis trat wenig später taghelles, wärmendes Licht: Ihr erster Trieb hatte nämlich die Zwiebelschale und den Erdboden durchdrungen. Das flimmernde Sonnenlicht, ein erfrischend prickelnder Luftzug und das vielstimmige Lied der Vögel umwarben sie nun. „Das also meinte der Gärtner“, dachte die heranwachsende Blume. „Wachstum betrifft das ganze Wesen. Mein äußeres Wachsen ist ein Gleichnis für noch Größeres und Schöneres, das tief innen in meiner Mitte beginnt und dann die Schale durchbricht, damit sich der Kern, mein eigentliches Wesen, entfalten kann.“

Sanft streichelten die Sonnenstrahlen den hellgrünen Trieb, der sich wohlig räkelte und unter der Zärtlichkeit der Sonne wuchs. Es tat ihm gut, dass die Sonne ihn einfühlsam zum Leben lockte, ganz wie es seiner Kraft entsprach. Mit der Zeit bildete sich am Schaft des Triebes eine Verdickung. Die Blüte reifte und reifte.

„Noch lebst du nur für dich selber und verwendest deine ganze Kraft auf die Entwicklung deines Wesens“, erklärte der Gärtner. „Aber bald wirst du ganz offen sein für das Lächeln der Sonne, für die Schmetterlinge, für den Wind und den Regen. Du wirst Farbe und Duft und Freude in die Welt tragen, um diesen Garten für alle lebendiger und bunter zu machen. Dann wirst du blühen, kleine Blume, und es wird keine einzige Blume im großen Garten geben, die so ist wie du.“

„Es bereitet sich schon vor“, flüsterte die Knospe. „Es ist, als ob sich in mir Schale um Schale schöbe. Aber nicht so wie in der Zwiebel. Die Schalen fühlen sich viel zarter und verletzlicher an, wie Schmetterlingsflügel. Wann ist der Tag gekommen, an dem ich meine Knospen öffnen muss?“

„Du musst so weit in den Himmel hineinwachsen, wie du in die Tiefe der Erde verwurzelt bist. Dann ist deine Stunde gekommen. Du wirst es spüren.“

Bald würde das Knospengehäuse zu klein sein für die Blüte. Ihre Blätter begannen schon, sich auszuspannen und auszudehnen. Die erwachsene Tulpe versuchte, ihre Blütensegel wie Flügel zu weiten. Aber noch waren sie im Dunkel ihrer Knospe gefangen und mussten mit aller Kraft drängen, um die behütende Knospe aufzubrechen. Das war nicht leicht. Jeder Riss in der Schale schmerzte ein wenig. Bald aber strömte helles Sonnenlicht durch die ersten Risse, ein wenig später begrüßte die junge Tulpe noch etwas zerknittert den sonnigen Tag.

Langsam und vorsichtig tastend streckte sie ihre rotgelben, seidenen Blätter dem Licht entgegen. Sie ließ sich von der angenehmen Wärme durchströmen bis in die letzten Fasern. Ein unbekanntes Glücksgefühl durchzitterte sie, und sie empfand sich zum ersten Mal als ganz frei.

Sie fühlte sich so leicht wie das Licht und zugleich so schwer wie die Erde und spürte, dass beides – Himmel und Erde – als eine große Wirklichkeit zusammengehören.

 

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Ulrich Peters, Der alte Gärtner und die Tulpe. © 2008 Verlag am Eschbach ein Unternehmen der Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, www.verlag-ameschbach.de